Mail Art, wie die Kunst im Allgemeinen, lässt sich nur schwer oder gar nicht eindeutig definieren. Dennoch können einige Hintergrundinformationen dabei helfen, besser zu verstehen, worauf man sich einlässt.
Die Ursprünge der Mail Art lassen sich bis ins Jahr 1963 zurückverfolgen. In diesem Jahr entstand die New York Correspondance School of Art. Erst 1971 wurde durch Marc Poinsot der Begriff Mail Art geprägt, der sich seitdem international etabliert hat. Die Bewegung erlebte ihren Höhepunkt in den 1970er- und 1980er-Jahren. Heute erkennt die internationale Gemeinschaft der Mailart-Künstler Ray Johnson als den Gründervater dieser Praxis an. Die Übergänge zwischen NYCS und Mail Art sind mittlerweile fließend, oft werden die Begriffe synonym verwendet. Trotzdem ist es wichtig zu wissen: Erst entstand das eine, dann entwickelte sich daraus das andere.
Mail Art ist ein echtes künstlerisches Phänomen. Es ist nicht ganz korrekt, sie als „Bewegung“ zu bezeichnen – auch wenn gewisse Ähnlichkeiten bestehen. Eine Kunstbewegung ist meist klar umrissen: Sie umfasst eine bestimmte Gruppe von Künstlern in einem bestimmten Zeitraum (mit erkennbarem Anfang und Ende), oft auch innerhalb eines geografischen Raums, die sich auf wiederkehrende Themen, Inhalte, Techniken oder Medien konzentrieren.
Mail Art hingegen ist viel fließender – was auch ihre Nähe zu den Ideen von Fluxus zeigt. Künstler können eine Zeitlang Teil davon sein und dann wieder nicht. Die behandelten Themen sind äußerst vielfältig und frei, die Beteiligten kommen aus allen Teilen der Welt. Die Zeitspanne ihrer Entwicklung ist lang und offen, was dazu geführt hat, dass sich innerhalb der Mail Art verschiedene Strömungen, Subgruppen und Netzwerke gebildet haben, die sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt haben.
Mail Art zieht immer mehr Menschen an, ihre Akteure wechseln, und mit ihnen auch Themen, Formen und sogar künstlerische Ansätze.
Oft wird sie auch als Eternal Network bezeichnet – ein „ewiges Netzwerk“ von Korrespondenzpartnern auf dem ganzen Planeten, das keine geografischen Grenzen kennt, sondern sich in einem „höheren“ Raum ausdehnt. „Ewig“, weil es (hoffentlich) niemals endet, sondern sich stetig weiterentwickelt. Angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten im Papierpostverkehr entstehen bereits neue Formen wie die e-Mail Art. In dieser Hinsicht erinnert Mail Art an die Republik der Briefe aus dem 15. Jahrhundert – eine Art imaginäre Regierung, die über die Kulturwelt wacht, den Austausch von Nachrichten ermöglicht und künstlerische Ideen verbreitet. Manchmal tritt dieser Austausch öffentlich in Erscheinung, manchmal bleibt er im Privaten.
Im Italienischen wird Mail Art als arte postale (Postkunst) und nicht als arte spedita (verschickte Kunst) übersetzt – ein bedeutender Unterschied, der in anderen Sprachen nicht immer klar gemacht wird. Das zeigt, dass es hier nicht nur um Kunstwerke geht, die per Post versendet werden, sondern um eine echte Verschmelzung zwischen Kunst und Postwesen – aus zwei Systemen entsteht etwas Neues.
Mail Art bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Kunst und Post, sie pflegt eine enge Beziehung zu beiden. Sie ist ein kreativer Umgang mit den Regeln der Post und bezieht in ihren Prozess nicht nur Absender und Empfänger ein, sondern auch Postangestellte und Zusteller.
Im Zentrum der Mail Art stehen Umschläge und Postkarten – doch grundsätzlich kann jedes postalische oder künstlerische Medium genutzt werden, das versendet werden kann. Seit den 1960er-Jahren wurden zahllose Künstlerpostkarten geschaffen. Viele Künstler, die nicht direkt zur Mail Art zählen, haben sich in ihren Arbeiten (konzeptuell, popkulturell, arm an Material…) mit der Post auseinandergesetzt. Doch nicht jeder, der postalische Medien nutzt, ist automatisch Mailartist – und viele Mailart-Künstler bezeichnen sich selbst nicht einmal als Künstler. Auch hierin zeigt sich ein Dadaistisches Erbe. Mailartists beteiligen sich an Netzwerken und gemeinsamen Projekten – sie arbeiten kooperativ und leisten so ihren Beitrag zum Kunstsystem, häufig in kollektiver Form.
Ein Mailartist ist vor allem eines: ein Mensch. Absender und Empfänger tauschen beständig die Rollen – und eröffnen uns eine „neue“ Form der Kunst, die nicht auf passivem Konsum beruht, sondern auf Austausch (per Post). Im Museum sind wir meist passive Betrachter fertiger Werke. Wir schauen, denken nach, nehmen sie vielleicht mit für eine tiefere Reflexion – aber das Werk bleibt, was es ist.
Mail Art hingegen ist kommunikativ – ein Dialog. Ihre Werke reisen durch die Welt, gehen hin und zurück, verändern sich durch den Kontakt, durch das Ankommen, durch die Reaktion. Neue Gedanken und Dimensionen entstehen, Impulse und künstlerische Einflüsse sind alltäglich.
Deshalb ist die Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum in der Mail Art kaum zu ziehen. Sie entsteht im Privaten, als persönliche Reflexion – wird aber beim Verschicken zu kollektivem Gut. Durch Ausstellungen, Kataloge, Bücher oder andere Formate wird sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Und doch bleibt sie oft „unsichtbar“ – wer sie nicht sucht, begegnet ihr vielleicht nie.
Aber wenn du bis hier gelesen hast, weißt du jetzt etwas über Mail Art – und kannst helfen, sie weiterzuverbreiten. Du kannst dazu beitragen, dass mehr Menschen sie praktizieren.
Das ist mein Traum in der Postbox: Diese kraftvolle Form der kommunikativen Kunst mit eurer Hilfe zu historisieren.
Nach Jahren intensiver Arbeit ist ein Herzenswunsch wahr geworden: Ich habe ein Buch über Mail Art veröffentlicht! Mein Ziel ist es, diese faszinierende Kunstform einem breiten Publikum vorzustellen, nicht nur den Insidern.
Demnächst auch in deutscher Sprache verfügbar!